Anlässlich des Todes von Lee Teng-hui – Rückblick auf das bedeutende Interview mit Günter Knabe von der Deutschen Welle aus dem Jahr 1999

Frage: Herr Präsident. Taiwans wirtschaftliche Erfolge werden in der ganzen Welt bewundert. Eine andere beeindruckende Errungenschaft Taiwans ist die erfolgreiche Demokratisierung der letzten Jahre. Die Regierung in Peking betrachtet Taiwan jedoch als ‚abtrünnige Provinz‘, was der Hauptgrund für die seit langem gespannten Beziehungen über die Taiwanstraße und die ernste Bedrohung Taiwans durch die chinesischen Kommunisten ist. Wie wollen Sie diesen Gefahren begegnen?

Präsident Lee: Die historische Realität ist. daß die Volksrepublik China nach ihrer Gründung 1949 niemals die Herrschaft über Taiwan, Penghu, Kinmen und Matsu ausgeübt hat, Gebiete, die der Verwaltungskontrolle der Republik China unterstehen. Seit der Verfassungsänderung von 1991 befinden sich die Beziehungen über die Taiwanstraße auf einer zwischenstaatlichen Ebene, zumindest ist es ein besonderes zwischenstaatliches Verhältnis. Es gibt also nicht eine legale Regierung und eine rebellische Clique oder eine interne Beziehung von „Ein-China“ zwischen einer Zentralregierung und einer Regionalregierung. Deshalb betrachtet das Regime in Peking Taiwan als ,,abtrünnige Provinz“, was der historischen und rechtlichen Realität aber vollkommen zuwiderläuft.

Frage: Die Erklärung einer Unabhängigkeit Taiwans scheint keine realistische Option zu sein, und Pekings Modell „Ein Land, zwei Systeme“ ist für die Mehrheit der Menschen in Taiwan nicht akzeptabel. Gibt es zwischen diesen beiden Wegen eine Kompromißformel? Wenn ja, wie könnte sie aussehen?

Präsident Lee: Zur Lösung der bilateralen Probleme kann man nicht einfach nur über die Standpunkte Wiedervereinigung oder Unabhängigkeit diskutieren, denn der Kernpunkt des Problems liegt in der Unterschiedlichkeit der Systeme. Von der Angleichung der Systeme aus kann man schrittweise eine politische Vereinigung in Angriff nehmen.
Wir möchten den Status quo beibehalten und auf der Basis des Status quo mit Festlandchina eine friedliche Lage aufrecht erhalten.

Frage: Nach der Rückgabe Hongkongs an China wurde Hongkong zu einem Operationsmodell einer „Sonderverwaltungszone“, und dieses Jahr im Dezember wird auch Macau von Portugal an China zurückgegeben. Beide Fälle werden möglicherweise von der VR China als Probe einer friedlichen Übernahme Taiwans betrachtet. Vom Standpunkt der anderen Länder der Welt aus gesehen. kann das trotzdem als eine Lösung der chinesischen Frage gelten, weil das ein gangbarer Weg zur Vermeidung einer regionalen Krise sein könnte. Wie denken Sie darüber?

Präsident Lee: Der wahre Grund für den Einfluß der Chinafrage auf die Sicherheit der Region liegt nicht in der Rückgabe Hongkongs, Macaus oder Taiwans an China. Die Republik China auf Taiwan ist keine Kolonie irgendeines Landes, und darin unterscheidet sich Taiwan auch von Hongkong und Macau. Der Kernpunkt des Problems ist, daß das chinesische Festland übertrieben den Nationalismus betont und bei seinem System keine Demokratie vollzogen hat. Das Festland hat uns nicht nur verbal attackiert und mit Gewalt einzuschüchtern versucht, sondern hat auch nie auf die Option der Gewaltanwendung gegen Taiwan verzichtet. International unterdrücken sie uns, wo sie nur können.

Das Modell „Ein Land, zwei Systeme“, welches das Festland Hongkong und Macau versprochen hat, hat auf Taiwan nicht die geringste Anziehungskraft.

Frage: Wenn die Spannungen in der Taiwanstraße außer Kontrolle geraten, so daß beide Seiten zu militärischen Mitteln greifen, mit welchen Mitteln würde Taiwan sich verteidigen und auf welche Länder außer Taiwan selbst können Sie sich dann verlassen?

Präsident Lee: Wir betonen, daß die bilateralen Probleme nur auf friedliche Weise gelöst werden sollten und nicht mit Gewalt. Das ist das Ziel. das wir immer energisch verfolgt haben, und unser Standpunkt, an dem wir fest-halten. Außerdem ist das die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft. Sie sollte dafür sorgen, daß Festlandchina auf die Anwendung von Gewalt gegenüber Taiwan verzichtet, den Konflikt mit friedlichen Mitteln löst, damit wir gemeinsam die Stabilität der Region schützen. Die Lage in der Taiwanstraße und die Sicherheit und der Frieden in der asiatisch-pazifischen Region sind untrennbar miteinander verbunden.
Außer der untrennbaren Beziehung zwischen der Stärkung der Stabilität in der Taiwanstraße und des Friedens in der asiatisch-pazifischen Region legt unser Land auch sehr großes Gewicht auf die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika. In den letzten Jahren haben die USA Taiwan immer mit der zur Verteidigung notwendigen militärischen Ausrüstung versorgt, und der Austausch der beiden Länder bei Wirtschaft, Kultur und Technologie hat sich auch stetig vergrößert. Auf absehbare Zeit werden die Beziehungen einer Sicherheitszusammenarbeit zwischen Taiwan und den USA weiterhin einer der wichtigsten Faktoren sein, die die Stabilität in der Taiwanstraße gewährleisten.

Frage: Die USA und andere westliche Länder sind von dem großen Markt des chinesischen Festlandes fasziniert, daher läßt sich nicht vermeiden, daß ihre Unterstützung für Taiwan abnimmt. Bedeutet das, daß Taiwans Zukunft deswegen noch düsterer sein wird?

Präsident Lee: Wir haben Verständnis dafür, daß in den letzten Jahren die Länder der Welt aus der Erwägung des Eigennutzes heraus die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit dem chinesischen Festland verstärkt und ausgebaut haben. Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen Taiwan und den USA sowie an-deren westlichen Staaten sind aber auch sehr eng, das ist nicht zu übersehen. Außerdem kontrolliert Taiwans geographische Lage den Seeverkehr im Westpazifik, das ist für die USA, Japan und die Staaten Südostasiens von großer Bedeutung. Deshalb spielt Taiwan zweifellos in den Beziehungen über die Taiwanstraße oder bei der regionalen Stabilität eine wichtige Rolle.

Frage: Obwohl zwischen Taipeh und Peking in politischer Hinsicht ein tiefer Graben klafft, schlagen die Investitionen Taiwans auf dem chinesischen Festland mit mehr als 25 Milliarden US-Dollar zu Buche. Diese umfangreichen Investitionen bringen für Taiwan die Gefahr der wirtschaftlichen Erpressung durch das chinesische Festland Wie wollen Sie verhindern, daß Pekings Führung zu solchen Mitteln greift?

Präsident Lee: Ein grundlegender Punkt ist, daß die Wirtschaft Taiwans und die des Festlandes nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, sondern sich gegenseitig unterstützen. Ich habe einmal angeregt, daß die Beziehungen über die Taiwanstraße der politischen Richtlinie „Eile mit Weile, mit Standhaftigkeit kommt man weiter“ folgen sollten.

Frage: Die VR China hat derzeit mit großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen zu kämpfen, die durch Massenarbeitslosigkeit ausgelöst wurden. Die Pekinger Führung könnte sich dadurch genötigt sehen, ihre Währung, den Renminbi, abzuwerten, um so ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten und sozialen Probleme zu lösen. Könnte eine Abwertung des Renminbi nicht auch schwerwiegende Folgen für die taiwanesische Wirtschaft haben?

Präsident Lee: Weil auf dem chinesischen Festland die Devisen noch einer strengen Kontrolle unterliegen, dürfte eine Abwertung den Renminbi wohl nicht zu unkontrollierten Phänomenen führen, denn die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sind Beziehungen der gegenseitigen Unterstützung und nicht der Konkurrenz. Obwohl durch eine Abwertung des Renminbi manche festlandchinesische Produkte billiger würden und taiwanesischen Produkten dadurch Konkurrenz machten, würde aber im großen und ganzen nach einer Zunahme der festlandchinesischen Exporte die Nachfrage nach taiwanesischen Zwischenprodukten ebenfalls ansteigen. Deshalb dürfte der Einfluß auf unsere Exporte nicht allzu bedeutend sein. Es gibt aber eine Frage, die Grund zur Sorge bereitet, nämlich ob eine Abwertung des Renminbi die Finanzen der taiwanesischen Geschäftsleute auf dem Festland und somit auch Taiwan beeinflussen kann. Darauf sind wir voll vorbereitet.