»Zwischen Geistern und Gigabytes«

Abenteuer Alltag in Taiwan – ein Reisebericht von Ilka Schneider

Ende der 80er Jahre hatte ich in der VR China ein typisches Gespräch mit einem chinesischen Mitreisenden im Zug. Nach den üblichen Präliminarien, das Alter, den Familienstand und den Beruf betreffend, wollte er gerne wissen, ob Hitler Ost- oder Westdeutscher gewesen sei. Als ich antwortete, er sei Österreicher gewesen, war mein Gesprächspartner verwirrt und ich hoffte, dass ich nicht Österreich (Audili) mit dem mehr nach Austria klingenden Australien (Audalia) verwechselt hatte. Und, ergänzte ich naiv, damals hätte es auch noch kein West- und Ostdeutschland gegeben, sondern es sei damals ein Land gewesen, so wie China und Taiwan. Der freundliche Mann wurde plötzlich sehr ärgerlich und fi ng an lauthals zu schimpfen. Dass Taiwan auch heute noch eine Provinz der Volksrepublik sei und wovon ich überhaupt rede. Mehr verstand ich von seiner Tirade nicht, aber er hörte so schnell nicht auf. Nach diesem Ausbruch sprang er auf und kraulte sich hektisch durch den überfüllten Zug, weit weg von mir. Denn aus Sicht der VR gab und gibt es keine Teilung, sondern nur so etwas wie Widerspenstigkeit oder schlechtes Benehmen der Inselprovinz. Von der Heftigkeit der Reaktion erschrocken und von meiner unwissenden Taktlosigkeit peinlich berührt, übernahm ich dann das Taiwan-Tabu. Es war, als ob ich mir durch die Beschäftigung mit der VR China im vorauseilenden Gehorsam die Neugier auf Taiwan verboten hatte.

Das Wort „Taiwan“ löste bei mir daher weiterhin nur so wenig großartige Assoziationen wie billige Klamotten und Plastikspielzeug aus. Später kamen Elektronik und Notebooks hinzu. „Made in Taiwan“ eben. Ich kam nicht im Mindesten darauf, dies damit in Verbindung zu bringen, dass Taiwan in kaum einem Land als Staat anerkannt ist und es daher die Außenpolitik durch Außenwirtschaftspolitik ersetzen musste.

Das andere, was mir noch linientreu zu Taiwan einfiel, war, dass sich die im chinesischen Bürgerkrieg unterlegene nationalistische Partei Guomindang 1949 auf Taiwan zurückgezogen hatte und dort lange regierte. Und die war mir wegen korrupten und ausbeuterischen Benehmens im chinesischen Bürgerkrieg schon immer unsympathisch gewesen.

Doch dann bekam ich aufgrund meines Chinesischstudiums die Möglichkeit mit einem Stipendium für ein Jahr nach Taiwan zu gehen. Ich begann deshalb in meinem Hirn zu kramen, ob sich nicht auch positivere Aspekte finden ließen. Der taiwanische Regisseur Ang Lee fiel mir ein und sein Film „Das Hochzeitsbankett“. Und anhand dieser Geschichte, in der traditionell eingestellte Eltern aus Taiwan zu ihrem schwulen Sohn in die USA kommen und aus seiner Scheineheschließung eine große, chinesische Hochzeit mit allem Tamtam machen, fi ng es an mir zu dämmern: Taiwan ist ein chinesisches Land, in dem die Kulturrevolution nicht gewütet hat, in dem Traditionen und Bräuche noch lebendig sind, wo die alten Langzeichen benutzt werden und an jeder Ecke Geister und Götter hocken. Gleichzeitig handelt es sich mittlerweile um eine chinesische Demokratie mit hohem Lebensstandard. Plötzlich war ich Feuer und Flamme für Taiwan und wollte das chinesische Land erleben, das zugleich moderner und altmodischer ist als die VR China. Über mein bisheriges Desinteresse innerlich den Kopf schüttelnd, bewarb ich mich um das Stipendium.

Was ich da, wie vieles andere, noch nicht wusste war, wie großartig Natur und Landschaft auf dieser kleinen Insel sind. Und mit wie viel Freundlichkeit mir die Menschen begegnen würden.

Als ich zurückkam, wurde ich regelmäßig gefragt, wie es denn war, in Thailand. Dabei war zu sehen, wie einige innerlich mit der Frage kämpften, warum um alles in der Welt ich denn zum Chinesischlernen nach Thailand gegangen sei. Ich bin selber geografisch minderbegabt, aber dass Taiwan für viele gar nicht zu existieren schien, machte mich im Hinblick auf das Allgemeinwissen der meisten Taiwaner über die Welt besonders betreten. So begann ich auf der Grundlage von damals kontinuierlich geschriebenen Texten und Geschichten dieses Buch zu schreiben.

Reise nach Taibei:
Ich schwänzte einen Freitag, damit sich der Ausflug nach Taibei auch lohne. Zunächst fuhr ich zum Jiang Kaishek (auf Hochchinesisch eigentlich Jiang Jieshi) Erinnerungsmonument und da sitzt er dann drin, der olle Reaktionär und lächelt in Übergröße als eine Art Übervater im chinesischen Gewand milde und liebevoll auf einen herab. Und dieses milde Lächeln regte mich an, mir über die taiwanische Geschichte Gedanken zu machen. Tausende von Jahren lebten auf Taiwan austronesische Volksgruppen, die bis ins 14.Jahrhundert mehr oder weniger unbehelligt blieben. Ab dann kam es immer wieder zu chinesischen Auswanderungswellen, die nach Taiwan schwappten und die Urbevölkerung wurde in die Berge abgedrängt. Heute sind vielleicht 2% der Bevölkerung ursprünglich einheimisch und leben vor allem auf der unzugänglicheren Ostseite. 1544 kamen die Portugiesen und 1603 die Holländer und benutzten Taiwan als Stützpunkt für den Handel mit China. Im Zuge des Untergangs der Mingdynastie (1644) kamen wieder Tausende von Chinesen und Coxinga besiegte, wie bereits berichtet, die Holländer. Erst 1681 gelang es der neuen Qingdynastie Taiwan zu erobern. Ab dann gehörte die Insel nicht nur ethnisch und kulturell, sondern auch politisch zu China. Im Zuge der Opiumkriege (1839-1860) wurden die Häfen Taiwans zwangsweise für den Handel mit dem Westen geöffnet. 1894 kam es zum chinesisch-japanischen Krieg, der sich ursprünglich um die Frage drehte, wer denn in Korea das Sagen habe. Vielleicht suchten die Japaner aber auch nur einen Grund für den Krieg, weil sie militärisch weit überlegen waren und auch ein bisschen kolonialisieren wollten. China verlor auf ganzer Linie und musste unter anderem Okinawa und Taiwan an Japan abgeben. Auf Taiwan wurde dann schnell der Versuch gemacht, einen eigenen Staat zu gründen und es erklärte sich zur ersten Republik in Asien überhaupt, was sich Japan natürlich nicht gefallen ließ. Nach erheblichem Widerstand gewann Japan die Kontrolle und fi ng an, die Infrastruktur zu modernisieren und die Bevölkerung unter der Knute zu halten. Alle wurden gezwungen, Japanisch zu lernen und ich traf einige, die zwar Taiwanisch und Japanisch, nicht aber Chinesisch sprachen. Taiwanisch ist eine Ausformung des südchinesischen Fujiandialektes und hat mit Mandarin, wie die meisten chinesischen Dialekte, nur die Schrift und grammatikalische Struktur gemein. Das bedeutet, man kann sich zwar Briefe schreiben, unterhalten kann man sich jedoch nicht.

1911 wurde auf dem Festland China Republik und Sun Yatsen Präsident und dieser Revolution wird am Doppelzehnten gedacht, dem hiesigen Nationalfeiertag. 1945 bekam China Taiwan zurück, aber in China herrschte Bürgerkrieg zwischen der Guomindang und den Kommunisten. Die Guomindang erwies sich als korrupt und brutal und verlor dadurch viel an Rückhalt und das, obwohl sie zeitweilig sowohl von den USA als auch von der Sowjetunion unterstützt wurde. Jiang Kaishek, der Generalissimus der Guomindang, ernannte Chen Yi zum Gouverneur auf Taiwan und dieser plünderte die Insel restlos aus, um Geld für den Bürgerkrieg zu beschaffen. Es kam zu Aufständen, bei denen Zehntausende starben. Letztlich gewannen 1949 die Kommunisten und verkündeten die VR China. Und Jiang Kaishek floh mit seiner Regierung und 1,2 Mio. Chinesen nach Taiwan. Dies sollte nur vorübergehend sein, bis das Festland zurückerobert worden wäre. Eigentlich sah es andersrum aus, aber da den USA im Koreakrieg auffiel, dass Taiwan als unversenkbarer Flugzeugträger von großer Bedeutung sein könnte, wurde es ihrem Schutz unterstellt. Theoretisch galt die demokratische Verfassung von 1947 der mittlerweile nur noch auf Taiwan existenten Republik China, diese wurde aber durch ein Notverordnungsrecht des Präsidenten schon 1948 praktisch außer Kraft gesetzt. Und diese Notverordnung galt bis 1991! 1971 beschloss die UNO die VR China und nicht die Republik China in die Vollversammlung aufzunehmen und Taiwan ersetzte daraufhin die Außenpolitik durch Außenwirtschaftspolitik. 1975 starb Jiang Kaishek, dessen Sohn seit 1972 Ministerpräsident war. Erst 1986 konnte sich eine andere Partei, die demokratische Fortschrittspartei, gründen, 1987 wurde der Ausnahmezustand und 1991 das Ermächtigungsgesetz aufgehoben. 1996 gab es die ersten vollwertigen Wahlen und der damalige Präsident Li Denghui im Amt bestätigt. Im Jahr 2000 und 2004 wurde Chen Shuibian von der demokratischen Fortschrittspartei gewählt. Dauerstreit ist natürlich: Ist/Wird Taiwan unabhängig, bzw. erklärt es sich als solches, oder nicht? Und was sagt die VR China dazu und wird sie schießen? Es gibt immer wieder Demonstrationen für die Unabhängigkeitserklärung, aber die VR China hat ein Gesetz erlassen, das vorsieht, in diesem Fall Taiwan angreifen zu müssen. Und so bleibt offiziell dieser sonderbare Schwebezustand bestehen, dass sich beide Seiten zwar nicht darüber einig sind, ob China nun Volksrepublik mit Hauptstadt Beijing oder aber Republik mit Hauptstadt Nanjing und Exilregierung in Taibei ist, aber schon darüber, dass Taiwan eine Provinz Chinas ist, über dessen Umfang insoweit Einigkeit besteht. Genau diese Einigkeit wird von der VR China als entscheidend angesehen, obwohl diese ganze Konstruktion gerade für jüngere Taiwaner keinen Sinn ergibt. Landespapa Jiang thront also in aller demonstrativen Milde und Güte in seiner Erinnerungshalle und unten findet eine Wachablösung statt. Ich kann mir nicht helfen, aber Wachablösungen sind so ziemlich das Lächerlichste was mir einfällt. Da zeigen ein paar Soldaten, dass sie, ohne sich anzusehen, gleichzeitig ein Gewehr umdrehen und mit dem Fuß aufstampfen können. Sehr schön. Die Choreographie erweiterte sich auch noch auf äußerst manierierte Handbewegungen und gleichzeitiges kreiselndes Gewehrwerfen. Mit einem kleinen Lächeln und Musik könnte das vielleicht als nette Jongliernummer durchgehen, aber mit diesem Bierernst und Ehre und Vonwichtigkeitdurchdrungensein sieht es einfach nur absurd aus. Nun gut. Da es diese Wachablösungen fast überall auf der Welt gibt, habe ich wohl nur etwas Wesentliches nicht verstanden. Immerhin war draußen stimmungsvolle Abendsonne. Anschließend fuhr ich zum Longshan-Tempel, der Guanyin, der chinesischen buddhistischen Göttin der Barmherzigkeit gewidmet ist und den es seit 1738 gibt. Dort fand zufällig ein Tempelfest statt und nicht endende Reihen von prozessierenden Darstellern traten in den Tempel, erwiesen Referenz und gingen wieder raus. Gestalten, etwa drei Meter hoch mit schlenkernden Armen, Trommler, Drachentänzer, Löwentänzer und wieder von vorn. Chinakracher, schwingende offene Sänften mit Gottheiten darauf, Wesen mit langen Eckzähnen, ein knallbuntes und dank der Feuerwerkskörper knalllautes Treiben. Im Tempel selbst biegen sich die Tische unter den Opfergaben, überall Blumen über Blumen und es wird ganz still gebetet. Dabei werden die Hände über der Stirn zusammengelegt und leicht bewegt. Insofern jemand darin keine Räucherstäbchen hält, sieht es ein bisschen so aus, als würde er jemandem in Stirnhöhe die Hand schütteln. Und dazu glühte ein dramatisches Abendrot.

Ilka Schneider arbeitet als Rechtsanwältin, Karatetrainerin, Porzellanbemalerin und freischaffende Künstlerin in Berlin.

Zwischen Geistern und Gigabytes
Abenteuer Alltag in Taiwan
Ilka Schneider
Dryas-Verlag
ISBN: 978-3-9811327-3-1